Aus dem Tagebuch des Verlegers. Wochenende. Irgendwann ...
Also, die Sache mit Berti macht mir zu
schaffen. Und ich bin froh, dass ich das hier mal loswerden kann. Ist ja nicht
so einfach, mit den Gefühlen. Vor allem als Mann. Aber wie der da so gehockt hat
gestern in diesem rosavioletten Bücherberg, das hat mich echt getroffen. Es ist
ja nicht so, dass ich nicht gern lesen würde, aber Berti, für den sind Bücher
das Leben. Ich glaube, der hatte schon ein Buch in der Hand, als er auf die Welt
kam.
Ich war zehn Jahre alt, als ich das erste Mal
in seinen Buchladen ging, weil wir so ein Reclam-Heftchen für die Schule
brauchten. Irgendwas Dröges, in Klassenstärke. Und diesmal machst du
das, sagte die Lehrerin. Und dann bin ich mit dem Zettel und dem Geld hin,
und als ich die Ladentür aufmachte, klingelte ein Glöckchen und hinter einem
hölzernen Tresen stand ein uralter Mann, also auf jeden Fall weit über Zwanzig,
der lächelnd den Zettel nahm und irgendwas von der wunderbaren Welt der
Literatur faselte. Ob ich gern läse und was und wie oft, und ob er mir mal ein
paar schöne Bücher zeigen soll.
BÜCHER? Ich wollte raus, Fußball spielen!!
Während er umständlich ein Bestellformular ausfüllte, rechnete ich mir aus, dass
ich im unendlich fernen Jahr 1995 Dreißig wäre, ein grauenhafter Gedanke. Ich
gebe zu, ich wollte ihn auch ein bisschen ärgern und freute mich auf sein
Gesicht, als ich auf seine Frage nach meinem Lieblingsschriftsteller: Perry
Rhodan sagte.
Und was geschieht? Der guckt, grinst, greift
unter den Ladentisch und zieht den neuesten Band heraus. Nun ja, spannende
Geschichten findet man überall. Aber bist du nicht noch etwas jung
dafür? Ich schüttelte den Kopf, er schenkte mir das Heft. Daheim riss es
mir mein großer Bruder förmlich aus der Hand, der Perry Rhodan verschlang wie
ich frische Butterbrezeln. Und ich war fünf Minuten lang ein Held.
Also. Gestern.
Berti ist kein Mensch, der unflätige Wörter
benutzt. Na ja, er liest eben viel und hat eine große Auswahl an Formulierungen,
mit denen er seinem Ärger elegant Luft machen kann. Aber gestern hab ich ihn
wirklich kaum wiedererkannt. Er hatte eine dicke Beule am Kopf und rote Flecken
im Gesicht. Und saß auf dem Boden, um sich herum ein wüstes Durcheinander aus
geschätzten drei Dutzend in rosalila Schutzumschläge gehüllte dickleibige
Bücher.
„Dieser vermaledeite Mist!“, begrüßte er
mich.
Ich quetschte mich zwischen einem kippeligen
Büchertisch und einem deckenhohen Regal hindurch und half ihm aufstehen. Berti
wohnt direkt über der Buchhandlung, und als Kind habe ich mir immer vorgestellt,
dass die vollgestopften Bücherregale durch die Decke direkt in sein Wohnzimmer
gingen, und dann weiter bis über die Decke in die Wohnung obendrüber, in der
lange Jahre Fräulein Else wohnte, die auch eine Brille und viele Bücher
hatte.
„Ich krieg die Krätze von dem Zeug!“
Spätestens jetzt wusste ich, dass ich mir
langsam Sorgen machen musste um meinen kultivierten Freund, der niemals mehr als
ein gepflegtes Bier am Abend trinkt. Oder alternativ einen guten Whisky oder
Wein. Mit Betonung auf ODER. Ich habe zwar auch den guten Vorsatz, bin aber
zugegebenermaßen nicht so konsequent. Ein Grund, warum ich Berti als Freund so
schätze. Er hilft mir, solide zu bleiben.
Aber jetzt ist er ziemlich derangiert und ich
rieche, dass seine Vorsätze heute den Fight verloren haben. Und das ist wirklich
das allererste Mal, seit ich ihn kenne. „Wein?“, frage ich.
„Whisky!", sagt er. "Lagavulin Distillers
Edition. 1991er Abfüllung.“
Die Lage ist noch ernster, als ich dachte. Ich
hebe eins der Bücher auf. Geschwungene hellrosa Schrift auf dunkellila Grund.
Zwei Schaukelstühle vor glutrotlilafarbenem Sonnenuntergang. Leer. Nein, nicht
ganz. Aus dem rechten hängt eine gepflegte weiße Hand heraus. Annabelle
Chanson. Die wilden Leidenschaften der Emilie A.
„Nun ja, wenn ich das lesen würde, bräuchte ich
wohl auch mehr als ein Schlückchen zum Nachspülen", versuche ich, Berti
aufzumuntern.
„LESEN?“, brüllt mein sonst so freundlicher
Freund. „DAS? ICH? Wofür hältst du mich?“
Er hält sich an dem kippeligen Tisch fest. Mein
Blick fällt auf einen weiteren Bücherstapel. Paperback. Ein blitzendes Messer,
lauter Blut auf unschuldigem Umschlagweiß. Ich kriege einen Schreck, aber dann
sehe ich: Die Spritzer sind auf jedem Buch, überall an der gleichen Stelle. Von
Berti kann das also nicht sein.
A.C. Dacon. Der Tod im Flur.
Der siebte Fall für Kommissarin Kitty.
Der siebte Fall für Kommissarin Kitty.
„Erfolgreiche Dame, was?“, sage ich, merke aber
gleich, dass der arme Berti heute für Humor nicht zu haben ist.
„Der Tod im Keller. Der Tod auf dem Dachboden.
Der Tod in der Küche!“, schnaubt er. Was kommt wohl als nächstes? Der Tod im
Klo?“
Ich habe Bedenken, dass der Tisch das noch
lange aushält und führe Berti zum Tresen. Darauf stapelt sich ein weiterer
Bücherhaufen. Daneben steht ein Ohrensessel. Zerschlissen, aber saugemütlich.
Hab ich schon als Kind gern drin gesessen. Berti lässt sich reinplumpsen und
betrachtet mich müde aus roten Augen.
„Nach meinem Selbstverständnis ist es die
vornehmste Aufgabe eines Buchhändlers, seine Kunden professionell zu beraten.
Deshalb habe ich von jeher größten Wert darauf gelegt, die Bücher zu lesen, die
ich verkaufe.“
Die Sprache stimmt wieder. Die Aussprache
nicht. Ich deute in Richtung des rosarotlila Haufens. „Mensch, Berti. Da hat
doch wirklich jeder Verständnis dafür, dass du bei den vielen Büchern heutzutage
nicht mehr die Zeit hast, alles vorher zu lesen.“
„Zeit hab ich den ganzen Tag.“
„Hm“, sage ich. „Vielleicht reicht es ja auch,
den Tod im Keller zu lesen, um zu wissen, was Kitty ein halbes Jahr
später in der Küche ermittelt?“
„Geschenkt“, sagt er und fährt sich über die
Augen.
„Warum hast du mit dem Lagavulin nicht
gewartet, bis ich komme?“
„Es war eine Kundin da.“
Das soll vorkommen, denke ich bei mir, wenn man
einen Buchladen hat. „Ja, und? Hat sie etwa kein Buch gekauft?“
„Doch! Sogar zwei!“ Er wischt sich wieder über die Augen. „Die wilden Leidenschaften, einmal als Geschenk verpackt. Und weißt du, was sie gesagt hat, beim Gehen? Also, wirklich: Diese Annabelle-Chanson-Romane werden immer einfältiger! Den vorletzten Band fand ich so lala, aber beim letzten, das war wirklich unterste Schublade! Für wie doof hält die uns Leser eigentlich? Aber man will ja nicht so sein. Eine Chance gebe ich ihr noch. Und meine Freundin, die Lisa, die hat morgen Geburtstag und ist ein absoluter Fan. Die wird sich bestimmt freuen.“
Mir drängt sich der Verdacht auf, dass der
Bücherstapel womöglich nicht von selbst umgefallen ist. „Hast du noch einen
Whisky übrig?“
(c) Thoni Verlag
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