Thoni Verlag: Im Vorwort Ihres Romans schreiben Sie, dass Personen und
Handlung erfunden sind, die Details dem einen oder anderen aber bekannt
vorkommen könnten. Sind damit nur die von Ihnen geschilderten Erlebnisse gemeint, oder haben Sie
auch reale Personen in Ihren Roman „eingebaut“?
Nikola
Hahn: Ich hatte keinerlei Interesse, einen
„Schlüsselroman“ zu schreiben. Bei meinen Protagonisten handelt es sich
ausschließlich um sogenannte „Gemengepersönlichkeiten“, von einer Ausnahme
abgesehen: Kommissar Kunze und seine berühmte Teekanne haben wirklich
existiert. Er ist zwar längst pensioniert, aber wer jemals mit ihm gearbeitet
hat, weiß beim Lesen sofort, wer gemeint ist. Alle anderen Personen haben keine
„Originalvorlage“: Klaus und Uli habe ich beispielsweise viele Erfahrungen
zugeschrieben, die ich mit älteren Kollegen gemacht habe, sogenannte
Bärenführer, von denen ich viel lernen durfte. Die Unsicherheit, aber auch der
Eifer, mit denen Dagmar in ihren Beruf startet, spiegeln zum Großteil meine
Gefühle als junge Polizistin wider. Was das Privatleben angeht, habe ich
biografisch mit ihr dagegen nichts gemein.
Bei der
Beschreibung von Hedis Alltag im Krankenhaus und später als Gemeindeschwester,
habe ich auf die Erzählungen meiner Mutter zurückgegriffen, die viele Jahre
lang als Hilfsschwester im Krankenhaus und in der Altenpflege gearbeitet hat.
Ellis Bücherschatz auf dem Dachboden spiegelt meine Vorliebe für Gedrucktes
aller Art; auch in meiner Bibliothek stapeln sich die Bücher in Zweierreihen,
und wie Elli habe ich mir den großen Wunsch erfüllt, eine Druckausgabe des Grimm zu besitzen.
Teile aus dem
„Künstlerleben“ Viviennes, vor allem die überdrehte Sprache gewisser Leute, die
sich in dieser Szene bewegen, sind mir aus eigenem Erleben bekannt; ich arbeite
ja nicht nur selbst als bildende Künstlerin, sondern habe auch, allerdings in
sehr kleinem und regionalem Rahmen, Ausstellungen organisiert beziehungsweise
daran teilgenommen. Für die Neubearbeitung des Romans kam mir außerdem zupass,
dass mein Mann mit Bekannten vier Jahre lang das Künstler-Café Mocca betrieb,
in dem wir regelmäßig Ausstellungen und Lesungen abhielten. Neben dem Kästchen
mit den polizeilichen Stilblüten stand übrigens ein zweites mit „schriftlichen
Sammlungen“ über Kunst und Kultur, die ich Vivienne und Galerist Wolfgang
Bernsdorf überlassen habe. Ganz ehrlich: Manchmal wusste ich nicht, über welche
Inhalte ich mehr lachen sollte.
Thoni: Trotzdem missbrauchen Sie Vivienne nicht als
Klamaukfigur.
N.H.: Wie auch? Sie ist zwar von ihrer Persönlichkeit her
etwas seltsam, aber nichtsdestotrotz eine ernst zu nehmende Künstlerin. Leider
bedient sie nicht das Bedürfnis einer Szene, die ständig das Besondere sucht,
wie es Galerist Bernsdorf so hübsch formuliert. Dass ihre Bilder dann doch
Erfolg haben, ist nicht nur dem Zufall und Hedis Flunkerkunst, sondern vor
allem dem Umstand geschuldet, dass sie an die richtigen Kontakte kommt.
Plötzlich sind auch ihre anderen Bilder interessant - zu
Recht. Auch wenn ihre Ausführungen zur Bedeutung von Form und Farbe in den
Ohren pragmatischer Menschen wie Klaus und Hedi verschroben klingen mögen, sind
sie doch das Ergebnis einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit der Frage, was
Kunst überhaupt ist. Gleichwohl erlaube ich mir, die Auswüchse „moderner
Kunstliebhaberei“ vergnüglich durch den Kakao zu ziehen. Die kleine
Ausstellungsführung außer der Reihe, die Hedi im Heidelberger Schloss
veranstaltet, hat es übrigens tatsächlich gegeben, wenn auch an einem anderen
Ort. Darauf hereingefallen sind die Leute hier wie dort.
Thoni: Und was ist aus Herrn Renzullos Stein geworden?
N.H.:
Das ist eine derjenigen Szenen, die die
Aktualisierung des Romans überlebt haben, obwohl sie in der Realität keinen Bezugspunkt
mehr haben. Der Stein steht schon seit vielen Jahren nicht mehr auf diesem
Parkplatz. Ende der 1990er Jahre erschien ein Artikel in der Tageszeitung Offenbach-Post, der
mich zu der entsprechenden Szene im Roman inspirierte. Den Polizeieinsatz hat es
so nicht gegeben. Umso realer war indes jenes mir unvergessliche Erlebnis, das
ich auf einer Lesung in Offenbach hatte: Kommt ein Herr auf mich zu und sagt,
dass er doch mal sehen wolle, wer das Buch geschrieben habe, in dem er samt
seinem Kunstwerk vorkomme. Wie es sich herausstellte, hatte mich Herr Renzullo
höchstpersönlich beehrt. Wir haben beide herzhaft gelacht. Ganz bestimmt wird
Renzullos Stein auch künftig einen festen Platz in der Wassermühle haben. Provokation Räume:
Das ist einfach zeitlos köstlich!
Thoni: Sie sagten anfangs, Die Wassermühle sei
ein zeitgenössischer Roman. Also nur Unterhaltung? Oder haben Sie auch eine
Botschaft?
N.H.: Zunächst einmal: Jeder Leser darf und soll diesen Roman
zur Freude und Unterhaltung lesen, über die Späßchen lächeln oder ein bisschen
traurig werden beim Auf und Ab in der Beziehung zwischen Klaus und Hedi, und
natürlich soll er das Ende samt hart gekochtem Ei mit einem Schmunzeln
genießen, ohne groß darüber nachzudenken. Was die Botschaft angeht, halte ich es
mit Reiner Kunze, der in seiner
Apfelweinkneipe Viviennes Kunstwerke ausstellen will: Wir sind davon überzeugt, dass auch die sogenannten
normalen Leute für anspruchsvolle künstlerische Arbeiten zu begeistern sind,
wenn sie sie in einem Umfeld präsentiert bekommen, das sie nicht einschüchtert.
Insofern hoffe ich, dass der eine oder die
andere vielleicht auch zwischen den Zeilen lesen und erkennen mag, dass Die Wassermühle von
der Gesellschaft erzählt, in der wir leben, und von dem Miteinander, oder
vielmehr Nicht-mehr-Miteinander der Menschen.
Thoni: Inwiefern?
N.H.: Bewusst habe ich verschiedene Lebenswelten nebeneinander
und gegeneinander gestellt: die
sensible, überkandidelte Künstlerin und die bodenständige, pragmatische
Krankenschwester; die idealistische, ehrgeizige junge Polizistin und der
erfahrene, am Leben gereifte Polizeibeamte; der welt- und wortgewandte,
beruflich erfolgreiche und bewunderte Galerist Bernsdorf, die
literaturbegeisterte adelige Dorfbäuerin Elli, deren vorgeblicher Abstieg sie letztlich
ihr Lebensglück finden ließ, auch wenn das mit ihren romantischen Vorstellungen
vom Landleben herzlich wenig zu tun hatte. Dass auch die „kleinen“ Nebenfiguren
im Roman Namen haben und individualisiert werden, etwa Maria Westhoff, die
verrückte alte Dame mit den Gespenstern im Wohnzimmer, oder Anne Ludewig, die
ihren Sohn verliert, hat ebenfalls mit dieser Intention zu tun. Friedrich
Hartmann, dessen Frau nach 61 Jahren Ehe stirbt, die pöbelnde Taxifahrerin
Martha, die ihren Mann vermöbelt oder Willi, der „objektiv gesehene versoffene
Pennbruder“, stehen für die vielfältigen, tragisch-komischen Lebenswelten, die,
teils unsichtbar, in unserer Gesellschaft existieren.
Thoni: Nicht wenige von ihnen haben am Ende die Einsamkeit zu
Gast.
N.H.:
Ja, die Einsamkeit hat viele Gesichter:
Menschen wie Rosa Ecklig oder der alte Witwer Möbius, der auf die Hefeklöße
seiner Nachbarin schimpft, versuchen sie mit Aggressionen zu bekämpfen, andere
ziehen sich zurück, stürzen sozial ab wie „Penner Willi“. Auch wenn es ihn als reale Person nicht
gegeben hat: Ich war damals bei der Räumung der Hütten am Kaiserlei dabei und
habe das genau so empfunden, wie Klaus es im Roman Dagmar erzählt. In solchen
Momenten ist man sprachlos, weil die Verlassenheit eines Menschen so übermächtig
deutlich wird. Einsamkeit ist ein existenzielles Gefühl; ich habe das oft
gespürt, wenn ich in eine dieser verwahrlosten Wohnungen kam, in denen ein
Mensch (meist waren es Männer) seit Wochen unbemerkt tot im Bett lag oder,
besonders makaber, vor dem laufenden Fernseher saß. Jeder Gegenstand atmete die
Verzweiflung über das Verlassensein, die sich schon lange vor dem Tod allen
Lebens bemächtigt hatte. Nicht der Tod war das Erschütternde, sondern die
Geschichte, die er über das Schicksal eines einsamen Menschen erzählte.
Thoni: Im Roman erlebt Klaus nicht nur dienstlich, sondern auch
privat, wie bitter dieses Gefühl ist ...
N.H.: Er versucht es zunächst zu verdrängen und, als das
nichts hilft, mit Ironie und zu viel Bier dagegen anzukämpfen. Wie verlassen er
sich tatsächlich fühlt, merkt seine junge Kollegin, als sie ihn an seinem
Geburtstag mutterseelenallein in seiner Wohnung findet. Als er glaubt, Hedi
verloren zu haben, und nachdem sein Sohn angekündigt hat, auszuziehen, hat er
eine solche Angst vor der leeren Wohnung, dass er lieber im Auto bleibt und
sich betrinkt, als in ein Zuhause zurückzukehren, das für ihn keins mehr ist.
Aber es gibt auch eine subtile und doch nicht minder schmerzliche Einsamkeit,
die auf den ersten Blick nichts mit Alleinsein zu tun hat. Sie versteckt sich
hinter glänzenden Fassaden, auf denen Dinge stehen wie: Erfolg, Macht,
Einfluss. Wie einsam muss der umschwärmte Wolfgang Bernsdorf innerlich sein,
wenn er Sätze sagt wie diesen: Es gibt
nicht allzuviele Menschen, bei denen ich sicher bin, dass sie mich um meiner
selbst willen mögen.
Thoni: Sowas überliest man aber schnell ...
N.H. (lächelt): Ja, ebenso schnell, wie man es im Alltag überhört. Diese
Sprachlosigkeit zu zeigen, das Schweigen inmitten von Geschwätzigkeit und die
stillen Schreie überhörter Nebensätze: Auch das war eine Intention, diesen
Roman zu schreiben. Ich wollte eine Geschichte darüber erzählen, wie wir
miteinander kommunizieren, oder eben auch nicht (mehr) kommunizieren. Wir verstehen uns - in
der Doppeldeutigkeit dieses Satzes liegt das Geheimnis gelungener Beziehungen:
Ich schätze dich, weil ich verstehe, was du sagst. Ich verstehe dich, weil ich
dich einzuschätzen weiß. Sich die Zeit zu nehmen, einen Menschen wirklich
kennenzulernen, entbindet von der Mühe, seine Worte einzeln auf die Waagschale
zu legen, und vor allem hilft es, sie richtig abzuwägen. Ich hab’s nicht so gemeint: Wer mag, kann sich einen Spaß daraus machen und mal
nachzählen, wie oft dieser Satz meinen Figuren über die Lippen kommt.
Thoni: Und welche Funktion hat die Sprache, die Sie aus Ihren
Zettelkästen und als Literaturzitate einbringen?
N.H.: Nun ja, manchmal legen es Gesprächspartner bewusst
darauf an, vom Gegenüber nicht verstanden zu werden: Sprache dient dann nicht
der Kommunikation, sondern als Bollwerk, um sich gegen andere abzugrenzen. Man
kann mit sehr vielen Worten nichts sagen oder, wie es Klaus ausdrückt,
Selbstverständlichkeiten in Neudeutschgelaber so geschickt verpacken, bis sie
niemand mehr versteht. Sprache kommt aber auch gern als unüberlegte Plapperei
daher, sei es Society-Smalltalk oder Gartenzauntratsch, die sich bestenfalls in
der rhetorischen Brillanz unterscheiden, wie die blaublütige Bäuerin Elli
überrascht feststellt.
Was die Zitate
angeht, stimme ich Heinrich Heine zu, dass man sich mit Klugheiten anderer gut
schmücken kann. Was jedoch meine Intention fürs Schreiben der Wassermühle
betrifft, möchte ich es mit Vivienne halten: Schon immer habe ich Freude daran gehabt, den Worten
nachzuspüren, die andere über Dinge gesagt haben, die mir wichtig sind. Die Sprache ist Mittel und Werkzeug, um die Menschen und
die Welt zu verstehen, und, so schließt sich der Kreis, Kunst besteht darin,
dieses Verständnis in Bilder mit einem Aha-Erlebnis zu übersetzen, sei es mit
Hilfe von Form und Farbe, wie es Vivienne tut, oder literarisch, also
editierend und schreibend, wie Elli es mit ihrer Literaturzeitschrift Die Wörtertruhe versucht.
Thoni: Oder mit einem Roman, der vordergründig als heitere
Familiengeschichte daherkommt?
N.H. (lacht): Ertappt.
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