Mittwoch, 23. Juli 2014

Kein Denkmal könnte eindrucksvoller sein ...

Gefallene Soldaten - das kennt man aus dem Krieg. Aber gefallene Dörfer? Wir haben sie erlebt, unter sommerlich heiterem Juli-Himmel in Frankreich, auf meiner Reise nach Verdun, die mir unvergesslich bleiben wird. Einige Eindrücke aus meinem Reisetagebuch:
 
Dienstag, 15. Juli 2014
"Village détruit" - ein Dorf, das es nicht mehr gibt, das gefallen ist für Frankreich im Großen Krieg, so sagen die Franzosen. Es gibt derer acht, man hat an ihrer Stelle Gedenkkapellen errichtet, geblieben ist von ihnen nichts, wahrlich GAR nichts. Nur die wie eine überdimensionale Orangenhaut aussehende Erde: Das ist noch immer der Anblick des Krieges, gnädig begrünt von hundert Jahren Natur. Aber diese Natur hat nichts verdecken können; der Untergrund blieb, nur eine Grasdecke wurde darüber gelegt, hat sich festgewachsen auf dieser Landschaft des Grauens. Die Natur hat Bäume in die Trichter gepflanzt, aber nichts verstecken können: keine Bodenerhebung, die nicht sichtbar Trichter oder Trümmerberg ist, unzählige Male durchwühlt, durchschossen, aufgeworfen, umgepflügt, bis nur noch baumloser, schuttübersäter Schlamm blieb, durchmischt mit allem, was vorher Leben war. Kein Denkmal könnte eindrucksvoller sein als dieses stumme Zeugnis menschlichen Irrsinns. 

Mittwoch, 16. Juli 2014
Nach dem Frühstück fuhren wir nach Fort Vaux. Fünfzehn Stationen, Lebenswege wurden nachgezeichnet, Kämpfe anschaulich gemacht. Es war nicht so feucht wie in der Veste Douaumont, dafür gab Vaux den Namen Gesichter, erzählte vom verzweifelten Kampf der Franzosen bis zur Aufgabe. Ich kaufte Rechercheliteratur. Ja, diese Reise ist Arbeit - Verdun: Thema meines nächsten Romans. Ich werde ihn nach diesem Besuch anders schreiben müssen als geplant. Verdun prägt, hinterlässt Spuren, verändert. Ähnlich habe ich es in Flandern empfunden, und doch war es dort anders: In Flandern wird die Geschichte noch immer in die Gegenwart geholt, der Last Post am Abend eines jeden Tages lässt die Toten klagen, den Feind noch erspüren. In Verdun bleiben die Toten in der Erinnerung, werden gleichwohl lebendig, aber nicht als Anklage, sondern als Mahnung, oder, wie Tom sagt: In Verdun hat man den Frieden gemacht. Man hat die Natur das geschundene Land bedecken lassen; die Wunden sind vernarbt, aber die Narben bleiben sichtbar, man lebt damit, kann den Schmerz beim Wetterumschwung spüren, aber es blutet nicht mehr. In Flandern blutet es noch, jeden Abend, wenn die Melodie erklingt. Zwei Erfahrungen, keine wollte ich missen.
 
Wir besichtigen MG-Kasematten und fahren nach Fleury, auch das ein "Village détruit". Fleury: Ein solch heiterer Name ... Die Gedächtniskapelle kennen wir schon, auch die grüne Hügel-Gräben-Landschaft wirkt vertraut. Und doch ist sie hier anders, hier bekommt sie einen Bezug zu dem, was war: Schilder, auf denen die Häuser bezeichnet werden: eine Farm, der Weber, der Schmied, die Kirche, die Schule. Eine ganze Dorfgemeinschaft wurde einfach weggebombt, ausradiert. Es fällt schwer, sich die Straßen und Häuser vorzustellen, und die Menschen, die einst darin gelebt haben. Selbst die Fotos an der Kirche helfen nur bedingt. Den Bürgermeister wählen sie bis heute. Dieser traurige Ort mit dem heiteren Namen war das Beeindruckendste der Reise. Musik ist hier verboten. Zu recht. Man braucht die Stille, um begreifen zu können.
 
Donnerstag, 17. Juli 2014
Fortress: Eine Reise in den Untergrund, mitten ins Leben der Soldaten; wir sind früh dran, noch wenige Besucher im Fort in Verdun; das Wägelchen für sechs Personen wartet, bis wir die Billets gekauft haben. Wir steigen in eine Zeitmaschine, fahren in den Berg, hundert Jahre zurück. Das, was wir in Fort Vaux erlaufen und erlesen, in Videos auf dem Sprachführer gesehen haben, wird hier unmittelbar, lebensecht. Der Wagen hält, vor uns ein Offizier nach schlafloser Nacht im Selbstgespräch. Er schreibt einen Brief an seine Lieben, benennt die Dinge mit Namen, die in diesem feuchten Labyrinth schon lange nichts mehr zählen: Liebe, Leben, Sonne, die Ernte, der Alltag zu Hause. All das, was in Fort Vaux die Fantasie erschaffen muss, wird im Dämmerlicht präsent. Die morschen Betten, ein Wasserkrug, Requisiten des täglichen Überlebens. 
Nächste Station. Ein General, der das Wienern der Uniformknöpfe verlangt und mehr Weihrauch vor der Krankenstation, um den Gestank zu vertreiben. Der Vorgesetzte der Soldaten wagt zu widersprechen, sich für seine Leute einzusetzen, die jämmerlich krepieren; Gehör findet er nicht. Es geht nicht um Recht oder Unrecht, nicht um Moral, um Menschlichkeit schon gar nicht. Es geht um strategische Ziele, um das große Ganze, was auch immer das ist. Diese Gespräche könnten genausogut auf Deutsch wie auf Französisch geführt sein, via Kopfhörer werden sie es ja auch, während die Originalsprache an den Wänden hallt. Deshalb war der Weihnachtsfrieden 1914 so gefährlich, musste mit allen Mitteln unterbunden, beendet werden: die Feststellung, dass Soldat Jean und Soldat Peter mehr gemeinsam hatten als ihre Befehlshaber, wäre kriegszersetzend, zu bedrohlich gewesen. 

Die Fahrt geht weiter, vorbei an Stellagen mit Brotlaiben, Halt in einer Bäckerei. Ein Anflug von Fröhlichkeit, als der Laufbursche sich zwei Brote verdient, ein junger Kerl, einarmig, wie wir erfahren, der Einzige, den man aus den Trümmern des heiteren Fleury noch lebend herausgegraben hat. Gedeckte Tische an den Wänden rechts und links, wir fahren an Tellern, Bestecken, Gläsern vorbei; ein Viertelbrot für jeden, die Reihen sind noch leer. Es fällt nicht schwer, sich die Männer vorzustellen, die hier bald sitzen werden, abgekämpft und müde und keine Chance darauf, so alt zu werden, wie sie aussehen. Unser Wagen dreht sich langsam im Kreis, dass wir dieses "Rattenloch-Leben" in allen Facetten aufnehmen können, das nur deshalb einen Hauch von Dämmerlicht-Romantik hat, weil der Gestank fehlt und die Angst, beim nächsten Angriff lebendig begraben zu werden.
 
Wieder der Offizier vor uns. Er denkt daran, als er jung war, seinen ersten Flieger sah: ein Erlebnis, an dem wir teilhaben, der hohe, weite Himmel, Wind im Gesicht, die Spielzeuglandschaft unter uns; wir nehmen den Blick des Piloten ein, ein Licht kommt näher, blendet, wir sind zurück im Graben. Der Flieger wird zur Gefahr, nimmt Leben, unzählige, bedroht, zerstört, bis er selbst zerstört wird. Angriff. Wir sind mittendrin im Schlachtgetümmel, die Artillerie schießt, wir hören den Kanonendonner, spüren die Erschütterungen, und doch: Es ist Kino, die Angst fehlt. Wir werden weiterleben. Aber wer nur einen Funken Fantasie hat, kann sich nicht entziehen. Die Schlacht endet mit dem Einsturz des Tunnels, unsere Fahrt vor einer eingestürzten Tür. Wir steigen aus, gehen ins Dunkel, ein Rauschen: Langsam wird es hell, wir durchqueren einen Wald, Bäume mit Blättern daran, die es auf den Schlachtfeldern schon lange nicht mehr gibt.
 
Wir verlassen das Fort, fahren aus Verdun heraus, vorbei an Wiesen, Feldern, Wäldern. Friedlich sieht die Landschaft aus, versöhnlich, gut. Die Sonne scheint. Obwohl uns hundert Jahre vom Großen Krieg trennen, ist die Vergangenheit nur einen Lidschlag entfernt.



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