Sonntag, 6. Mai 2012

Der Atem der Vergangenheit

Was macht es so spannend, in alten Büchern zu graben? Na gut, falsch formuliert: Was macht es so spannend für MICH, in alten Büchern zu graben? Es ist die Lust am Entdecken, die Neugier auf das, was gestern wahr war und heute vergessen ist - aber auch die Faszination, auf vergilbtem Papier und in alter Schrift das zu finden, was auch heute bewegt, zu erkennen: Die Welt hat sich gewandelt und ist doch gleichgeblieben.
Neben den gestern erwähnten lesetechnischen Ausflügen in die Welt der Neurowissenschaft, reise ich parallel in die Welt der 1920er Jahre und studiere "Lehrbriefe" über "Die Kunst richtig zu denken" in vier Teilen. So heißt das kleine Werk, das 1922 erschienen ist, aber tatsächlich auf Ausführungen zurückgeht, die noch einhundert Jahre älter sind. Der vollständige Titel lautet:

Die Kunst, richtig zu denken
Ein Lehrgang der Gymnastik des Geistes und eine Schule des Denkens in Unterrichtsbriefen für alle, die etwas erreichen wollen

von

 Prof. J. A. Bergk
neu bearbeitet und erweitert von
Reinhold Gerling und Hanns F. Frosch


9. bis 11. Tausend
Orania-Verlag G.m.b.H., Berlin (1922)


Auf vergilbtem Papier in Fraktur gedruckt (woran ich mich immer erst ein wenig gewöhnen muss, bis es beim Lesen "flutscht"), der Umschlag eine billige blaue Pappe, Band eins mit Klebeband zusammengehalten und der Titel sicherlich alles andere als marktgängig: Die vier Büchlein spiegeln die Zeit, in der sie entstanden, innen wie außen, die Anfänge der Weimarer Republik, Jahre der Not, aber auch den Aufbruch in neue Zeiten.
Warum lese ich das - zumal ich ja gerade KEINEN historischen Roman schreibe, sondern ein sehr gegenwärtiges Buch über Vernehmungstechniken? Ich könnte das seitenweise erklären, tue ich aber nicht, weil Ihr mir das sicher übel nehmen würdet, also kurz: Es ist erhellend! Es hilft, Neues einzusortieren, ein bisschen gelassener zu werden und abzuwägen, wenn es daran geht, zu entscheiden: Was ist wirklich neu - und mit welchen Dingen beschäftigen wir und nur neu?
Bevor ich wieder eintauche in den Gilb der Geschichte :)) ein kurzes Zitat aus ebenjenem Buch:

"Wir unterschätzen die Vergangenheit, weil wir die Gegenwart übeschätzen. Nur vergessen wir dabei, daß wir ganz und gar auf den Schultern der Alten stehen, und daß sie - von den technischen Erfolgen abgesehen - recht viel von den Dingen wußten, die wir für Gedankenprodukte unserer Zeit halten. Sie brachten sie allerdings anders zum Ausdruck. Ihre Sprache war weniger "wissenschaftlich", aber sie war dafür verständlicher als die Sprache, die man heute für gewöhnlich in wissenschaftlichen Büchern antrifft (...)."
(Erster Teil, S. 10)

Das hat was, oder? Ja, und dann gibt es noch diese wunderbaren Augenblicke, die Sammler alter Werke wohl das Entsetzen in die Augen trieben: Anmerkungen der Leser, mit Bleistift an den Seitenrand geschrieben, Unterstreichungen, Fragezeichen, oder, wie in diesem Buch: eine persönliche Botschaft aus der Vergangenheit ... eine eingelegte Visitenkarte eines Dr. med. Rudolf B. (den vollen Namen lasse ich weg, da es heute noch Ärzte dieses Namens gibt ...), dessen Stempel auch im Buch zu finden ist, was mir zeigt, dass dieser Dr. med. irgendwann das Buch besessen hat. Und auf der Rückseite seiner Visitenkarte (auf deren Vorderseite außer dem Namen und "Arzt" nichts steht) hat er in schwarzer Tinte handschriftlich vermerkt: Immer das Gute sehen!
Ein Gruß aus der Vergangenheit, der berührt.

Habt einen schönen Sonntag.
Nikola

1 Kommentar:

  1. Ein herzliches Hallo!

    Tja, ich habe selbst schon überlegt, woher ich die kleine Bücherreihe habe ... Ursprünglich hatte ich sie zu Recherchezwecken für meinen driten historischen Krimi gekauft, und das ist ein paar Jährchen her. Da ich fast alle antiquarischen Bücher übers Internet kaufe, wird es wohl bei diesem auch so gewesen sein. (Ich recherchiere oft über zvab oder eurobuch.com ).
    Viele Grüße
    Nikola

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