Samstag, 13. April 2013

Geständnis in der Lurchenhöhle

Gerade komme ich von einem langen und wunderschönen Spaziergang durchs Netz zurück, lasse mich mit einem wohligen Seufzen hier in meiner Schreibstube nieder und freue mich über die unglaubliche Vielfalt, die "Büchermenschen" in der virtuellen Welt geschaffen haben. Da sage noch einer, das (gedruckte) Buch sei auf dem absteigenden Ast!

In einem mit viel Begeisterung und Herzensfreude gestalteten Blog,
Leselurchs Bücherhöhle, fand ich die Aufforderung, ein Geständnis abzulegen ... Das passt besonders gut, nachdem ich eine ganze Woche lang damit zugebracht habe, meinen Kollegen etwas über professionelle Vernehmungsarbeit zu erzählen. 
 
DIESES BUCH IST SCHULD AN MEINER LESESUCHT!

So lautet der Vorhalt. Und fürs Geständnis möchte ich ein bisschen graben, denn beim Lesen der Aktion fiel mir eine Geschichte ein, die unter die Rubrik fällt "Gute Gedanken kehren immer wieder". Es ist schon Jahre her, als ich - schon damals gern im Netz unterwegs - auf die Initiative des Wiener Verlegers Dr. Fritz Panzer stieß, der alle Menschen, denen er begegnete, nach ihren drei "Lebensbüchern" fragte, also Bücher, die einen besonderen Eindruck hinterließen, im schönsten Falle das Leben nachhaltig beeinflussten. T
ausende von Menschen haben ihm geantwortet, und auf einer eigens geschaffenen Website wurde daraus das "Projekt Lebensbücher", ein rein privates Vergnügen ohne jeden finanziellen Hintergrund, ohne wissenschaftlichen Ehrgeiz. Eine wunderbare, zeitlose "Bestsellerliste" entstand. Leider ist die Seite nicht mehr online. Umso schöner ist es, nun eine ähnliche Idee zu finden, mit dem Unterschied, dass diesmal Buchgeständnisse erzählt, nicht gelistet werden und dass speziell nach der Inspiration fürs Lesen gefragt wird.
Ich nehme die Idee zum Anlass, um meine drei Lebensbücher, die ich damals auf die Liste gesetzt hatte, noch einmal herauszukramen ... Hier ist es also, mein Buchgeständnis:


1. Momo/Michael Ende
2. Das wunderbare Überleben/Wladyslaw Szpilman
3. Der Medicus/Noah Gordon

  Momo habe ich vor Jahren zuletzt gelesen, und ich kann nicht mal mehr in allen Einzelheiten sagen, wie die Handlung war, ABER, und das macht es zu meinem absoluten Favoriten (ich musste keine Sekunde nachdenken, dass es Platz 1 einnimmt), dieses Buch schwingt bis heute nach, ist eine wunderbar erzählte ZEIT-Geschichte, eine Metapher für die ruhelose Zeit, in der wir leben, auf jeder Seite Sätze, die berühren, die das, was man selbst empfindet, in poetische Bilder übersetzen, ein Buch, das tröstet, das Mut gibt und doch die Wahrheit nicht verschweigt. Kümmert es mich, dass es "nur" Jugendliteratur ist? Ganz ehrlich: Nicht im Geringsten.

  Auch beim zweiten Buch musste ich nicht lange überlegen, weil es mich gefühlsmäßig sehr "mitgenommen" hat, im wahrsten Sinne des Wortes. Wladyslaw Szpilman gelingt es, eine grauenvolle Zeit und noch grauenvollere Erlebnisse ohne Anklage zu erzählen, todtraurig selbstironisch, um es mit Wolf Biermanns Worten zu sagen, in einer schlichten, anrührenden Sprache. Ich habe nach der Lektüre tagelang fiktive Gespräche mit dem Autor geführt, das Erzählte hat mich einfach nicht losgelassen.


   Der Medicus auf Platz drei ist schließlich ein Buch, das mich vor allem durch die detailgetreue Recherche einer längst vergangenen Zeit fasziniert hat. Dabei hat es eine ganze Weile gedauert, bis ich mich an die Lektüre wagte. Ich bekam das Buch geschenkt, und der Titel sagte mir nichts, klang irgendwie dröge. Umso überraschter war ich, dass sich dahinter so ein erzählerisches Kaleidoskop verbarg. Hinzu kommt, dass ich dem Medicus quasi meine eigene schriftstellerische Genreorientierung zu verdanken habe. Aus einer Frage nach meinen Lieblingsbüchern entwickelte sich die Idee, meinen historischen Kriminalroman Die Detektivin zu schreiben.




Jahre ist es her, seit ich meine Lebensbücher benannte, und schon beim Schreiben merke ich, dass sie es geblieben sind: ganz besondere Bücher in meinem Leben. Nicht nur fürs Lesen-Müssen, sondern auch als Motivation fürs Schreiben: Momo hat mich letztendlich, zusammen mit Der Kleine Prinz, zu meinem Märchenroman Der Garten der alten Dame ispiriert und ist damit, bleiben wir in der Terminologie, sozusagen die späte Rechtsfolge meines Geständnisses *lach*.
 


www.thoni-verlag.com

Sonntag, 7. April 2013

... und es hat mir den Atem verschlagen -

Wenn man ein Buch in die Welt lässt, bekommt man in der Regel auch Feedback, das von Begeisterung bis Verriss gehen kann. Übers Lob freut man sich, die Negativmeinungen nun ja, schluckt man. Irgendwie. Lesen ist subjektiv, und Gefühle der Leser sind zu respektieren. Trotzalledem: Es gibt Menschen, deren Kritik einem besonders nahegeht, und über deren Lob man sich "wie Bolle freut". Weil ihre Stimme fürs Selbst wichtig ist, subjektiv, weil man den dahinter stehenden Menschen mag, oder objektiv, weil er aus der Fachlichkeit heraus urteilt. Manchmal trifft beides zusammen, und das sind Momente, in denen man als erwachsener Mensch wie ein Kind durchs Zimmer hüpft. Ich bekam ein solches Lob für meinen bebilderten Lyrikband "Singende Vögel weinen sehen" mit Datum vom 12. März dieses Jahres, ein persönlicher Brief des von mir sehr geschätzten Lyrik-Verlegers Theo Czernik. Er hat mir freundlicherweise erlaubt, den Brief zu veröffentlichen. Herzlichen Dank dafür!


Liebe Frau Hahn,

Sie haben Lyrik auf den Punkt gebracht, in Wort und Bild. Genau genommen möchten wir alle nichts anderes und schießen doch übers Ziel hinaus. Zu viele Worte, oft der gleiche Sinn und nur an eine andere Zielgruppe gedacht, klug, zu klug, dumm, eitel. Ein Gedicht sollte wie Atemholen sein, selbstverständlich. Ich suche diese Gedichte, aber es werden immer weniger. Ich habe vor einigen Tagen mit Johanna Anderka auch über die Qualität gesprochen und mir dann die Bücher aus den 70er und 80er Jahren aus dem Schrank geholt, und es hat mir den Atem verschlagen - das waren noch Gedichte! Heute muss ich zehn Manuskripte weglegen, weil ich nichts besonders Lesenswertes darunter gefunden habe. Eine neue Generation! Oder ich bin zu alt! Und jetzt liegt Ihr Bändchen vor mir. Ein wunderbarer Gedanke und der verwirklicht! Ich kann Sie dafür nur beglückwünschen.

Es grüßt Sie ganz herzlich
Ihr Theo Czernik

Czernik-Verlag/Edition L

Dienstag, 2. April 2013

JA! JA! JA!

Über manche Mails freut man sich ganz besonders :) Heute fand ich eine solche - von Wolfgang Tischer. Er hat mich gestern offenbar am virtuellen Kaffee würgen sehen und wollte mir eine Replik in den Blog stellen, allein: Die Technik wollte nicht. Sowas! Weil mich die Mail mit der Welt versöhnte, und weil ich sie als bloßen Kommentar viel zu versteckt fände, hier im Wortlaut - und DANKE :)
 
 
Absolute Zustimmung!
 
Die Zahl der "Schablonenschreiber" ist Legion. Und obwohl immer wieder behauptet wird, dass das Selfpublishing dazu führt, dass nun auch Autoren eine Chance haben, die abseits des Mainstreams schreiben, ist die Wirklichkeit eine andere. Das Gerangel in den Amazon-Bestenlisten befördert vielmehr die, die sich im Titel, im Plot, im Genre und bei der Covergestaltung an dem orientieren, was das dortige Publikum will.

 
"Kohle machen" wird immer wichtiger, die Qualität des Inhalts tritt an die zweite Stelle.
Wohin die Publikumsorientierung führt, dass zeigt das Privatfernsehen. Und es zeigt mittlerweile auch ein Blick auf die Amazon-Bestseller. Titel wie "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" oder "Leben" von David Wagner hätten dort künftig keine Chance mehr, wenn es nicht Verlage, das Feuilleton und Literaturpreise gäbe, um sie in die Listen zu bringen.

 
Die Orientierung am Publikumsgeschmack ist der Feind des Kreativen, des Provozierenden und des Neuen. Natürlich gieren einige Verlage und Autoren nach mehr "Lesernutzungsdaten", um ihre Werke zu "optimieren" und Plots zu "verbessern", um kurzfristig noch mehr Geld zu verdienen. Ich habe einige dieser Autoren erlebt.

 
Ernsthafte Sorgen würde ich mir nur dann machen, wenn sich über die Nennung dieser Tatsachen niemand mehr aufregen würde und sich kein Widerspruch regen würde. Solange es Menschen gibt die "Nein!" rufen, ist mir um Texte abseits des Publikumsgeschmacks nicht bange.

 
Herzliche Grüße
Wolfgang Tischer
 

NEIN! NEIN! NEIN!

Eins vorweg: Ich gehe sehr, sehr gerne ins Literaturcafé; dort gibt es immer etwas zu entdecken, zum Thema Bücher und Büchermacher, übers Schreiben, über Schreiber - es ist DER Treffpunkt im Netz für Leute, die Bücher mögen. Und weil ich nach getaner Arbeit gern ein wenig durchs Netz schlendere, habe ich heute Abend einen Besuch im Literaturcafé gemacht. Und dachte, mich trifft der Schlag. Einen Aprilscherz hatte man sich erlaubt: amazon kürze die Tantiemen für Selfpublisher von 70% auf 40%. Aber das war nicht das Schlimme, das Schlimme stand verschämt versteckt im Text und wurde noch als Errungenschaft avisiert:

Zitat: "Die direkte Reduzierung des Autorenhonorars wie in unserem Aprilscherz wäre sicherlich zu plump. Dennoch würden ohne Frage viele Verlage und Autoren dafür zahlen, wenn sie erfahren, wie viele Leser ein E-Book nach dem Kauf wirklich gelesen haben und ob die Lektüre vollständig abgeschlossen wurde."
Das war der harmlose Auftakt. Es folgten Aussprüche in dem Sinne, dass man ja dann als Autor seine Geschichten entsprechend dem Lesergeschmack anpassen könnte, damit man mehr verkaufen könnte. Zum Beispiel, wenn Leser ausstiegen, weil ihre Lieblingsfigur stürbe etcetera. Das sind Momente, in denen mir der virtuelle Kaffee im Halse stecken bleibt! Und ich, trotz der späten Stunde, zum Griffel greife:

NEIN, NEIN, NEIN!!! Wir haben schon viel zu viele "Schablonenschreiber"! Ich jedenfalls würde NULL Cent für diese Information bezahlen, denn genau mit diesem Dilemma kämpfen doch viele Autoren gerade: Dass die (großen) Verlage GENAU das verlangen. Schreiben nach Schema F. Gut,  zugegeben: Auch ich will mit meinen Büchern Leser erreichen, und ich verschenke sie nicht, sondern will sie verkaufen, also Geld damit verdienen. Aber das heißt doch bitte nicht, dass es NUR noch darum geht, Geld zu verdienen, und man ALLES schreiben muss, was irgendwelche Statistiken auswerfen. Nicht der Aprilscherz hat mich entsetzt, sondern diese Aussage. Quo vadis, Buchkultur?
 
So. Aufgeregt und abgeregt. Ich wünsche allen einen guten Start in die Woche!

PS: Hier geht`s zum Originaltext:

http://www.literaturcafe.de/nach-goodreads-uebernahme-amazon-kuerzt-autorenhonorare-auf-40/#comments

Donnerstag, 28. März 2013

Facebook never ever.

Aus den Annalen des Verlegers, der keiner ist ...

Wochenende, wieder mal.

Ich bin froh, dass das hier keiner liest, aber dafür sind Tagebücher ja da. Und ich gebe zu, dass es mir wirklich gut tut, ab und zu mal über Dinge schriftlich nachzudenken, wenngleich es ein gewisses Risiko birgt, dessen ich mir bewusst bin. Zum einen schreiben Männer keine Tagebücher, und schon gar keine in meiner Position. Das ist was für Frauen, die frustriert zu Hause sitzen und nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Sagt mein Chef. Aber das braucht mich nicht zu belasten, denn der glaubt auch, dass er von der Pforte bis zum dritten Stock beliebt ist. Ich habe mit dem Tagebuchschreiben angefangen, als wir PCs bekamen, ist also schon eine Weile her. Das Hämmern auf einer Tastatur sieht immer gut aus. Und wenn man zum Samstags-Arbeiten verdonnert wird, sowieso. Und wenn`s mich daheim überkommt, schick ich mir die Einträge einfach per Mail.

Statt jetzt hier zu hocken, wäre ich viel lieber zu Berti in den Laden gegangen. Ich muss mal ernsthaft mit ihm reden, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass er das nicht hören will. Wenn ich ehrlich bin: Nach meiner ersten Euphorie und zwei Nächten drüber schlafen, bin ich auch ein bisschen skeptisch, ob das so das Wahre ist, was dieser Eddy alias Ad mir da alles ans Ohr erzählt hat.

Aber manchmal lässt man sich schnell begeistern und stellt das Hirn erst hinterher wieder ein. Wenn ich jetzt so überlege: Eigentlich war der Typ ja schon ein bisschen, nun: schmierig ist nicht der richtige Ausdruck, glattgebürstet, trifft`s vielleicht eher. Mag ich eigentlich nicht so, und wenn ich nicht wegen Bertis Bücherchaos schon drei Bier zu viel gehabt und ziemlich down gewesen wäre, hätte ich mich womöglich gar nicht auf den Typen eingelassen. Aber dann habe ich dem sogar von Bertis Buchladen erzählt und von meiner Idee mit dem Thoni-Verlag. Da hat der ein richtiges Glitzern in die Augen bekommen: Das sei ja genial! Und ob ich denn schon ein mediales Werbekonzept hätte? Und dass er Profi auf dem Gebiet sei und mir helfen könne. Und dann kam auch noch dieser komische Reporter Lustlos - Rastlos? Ratlos! Und dieser Ad hat die Frechheit besessen, sich als Marketingleiter meines Verlags zu generieren. Wobei ich sagen muss: Er hat das gut rübergebracht, und das Gesicht von diesem Rastlos, ähm, Ratlos, das war schon klasse!
Na ja, ich hab mich überreden lassen, und eigentlich: Es kann ja nicht viel schiefgehen. Und kosten tut`s auch nichts. Ad ist also jetzt Leiter der nichtexistenten Marketingabteilung im Thoni-Verlag, der keine Bücher verlegt. Das hat was!

Gestern haben wir uns zum zweiten Mal bei Willi getroffen, und Ad hat mich zugelabert mit seinem multimedialen Konzept, und dass ich unbedingt ins Social Web einsteigen müsse. Oder so ähnlich. Du kennst doch bestimmt Facebook, Kumpel?
Also, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was ich mit dem Thoni-Verlag bei Facebook soll. Was ich überhaupt da soll! Ich geb`s zu: Ich habe vor einiger Zeit mal versucht, bei Facebook einen Account zu eröffnen, weil alle meinen, ohne das ginge es nicht mehr. Aber ich kann ja nicht mit meinem richtigen Namen rein - wegen meiner Tätigkeit hier. Neugierig war ich allerdings schon. Also habe ich mich von unserer Kundenkartei inspirieren lassen und dazu ein frühes Foto von meiner Oma hochgeladen. Und dann ist man zwar „drin“, steht aber erst mal in einem virtuellen leeren Raum und ist versucht zu rufen: He, wo sind die Millionen? Freunde soll man einladen - wie denn? Mein Freund Berti ist ganz bestimmt nicht bei Facebook! Dann habe ich spaßeshalber den Namen von dem Depp aus der zweiten Etage eingegeben, der den ganzen Tag nur blödes Zeug erzählt und die Kollegen vom Arbeiten abhält, und was sehe ich da: 3578 Freunde, 197 Fotos, 285 Pinnwandeinträge, 27 Gruppen.

Wenn ich überlege, wie lange es gedauert hat, bis Berti und ich das waren: FREUNDE. Und der Simpel da unten hat 3578 davon? Das würde ja fast zehn Jahre dauern, bis er mit jedem von denen mal ein Bier getrunken hat - die Wochenenden mit eingerechnet! Ich weiß nicht, was mich geritten hat, aber als zweites habe ich den Namen meiner Oma ins Suchfeld gesetzt. Mich hat`s fast vom Hocker gehauen: MEINE OMA IST BEI FACEBOOK! Und auch noch mit dem gleichen Bild! In diesem Moment wusste ich, dass es angeraten war, mich virtuell schnellstens aus dem Staub zu machen. Facebook? Never ever!
Und das hab ich dem Ad auch gesagt. Und was macht der? Was er am liebsten macht: GRINST. Lass mal, Kumpel. Kümmere du dich ums operative Geschäft. Ich kümmere mich ums Marketing. WELCHES OPERATIVE GESCHÄFT?
Ich bin mir wirklich nicht mehr sicher, ob das mit Ad so eine gute Idee war. Und Berti weiß auch noch nichts davon.

(c) Thoni Verlag

Sonntag, 24. März 2013

Der saugemütliche Ohrensessel, oder: Noch einen Whisky?

Aus dem Tagebuch des Verlegers. Wochenende. Irgendwann ...

 
Also, die Sache mit Berti macht mir zu schaffen. Und ich bin froh, dass ich das hier mal loswerden kann. Ist ja nicht so einfach, mit den Gefühlen. Vor allem als Mann. Aber wie der da so gehockt hat gestern in diesem rosavioletten Bücherberg, das hat mich echt getroffen. Es ist ja nicht so, dass ich nicht gern lesen würde, aber Berti, für den sind Bücher das Leben. Ich glaube, der hatte schon ein Buch in der Hand, als er auf die Welt kam.
Ich war zehn Jahre alt, als ich das erste Mal in seinen Buchladen ging, weil wir so ein Reclam-Heftchen für die Schule brauchten. Irgendwas Dröges, in Klassenstärke. Und diesmal machst du das, sagte die Lehrerin. Und dann bin ich mit dem Zettel und dem Geld hin, und als ich die Ladentür aufmachte, klingelte ein Glöckchen und hinter einem hölzernen Tresen stand ein uralter Mann, also auf jeden Fall weit über Zwanzig, der lächelnd den Zettel nahm und irgendwas von der wunderbaren Welt der Literatur faselte. Ob ich gern läse und was und wie oft, und ob er mir mal ein paar schöne Bücher zeigen soll.
BÜCHER? Ich wollte raus, Fußball spielen!! Während er umständlich ein Bestellformular ausfüllte, rechnete ich mir aus, dass ich im unendlich fernen Jahr 1995 Dreißig wäre, ein grauenhafter Gedanke. Ich gebe zu, ich wollte ihn auch ein bisschen ärgern und freute mich auf sein Gesicht, als ich auf seine Frage nach meinem Lieblingsschriftsteller: Perry Rhodan sagte.
Und was geschieht? Der guckt, grinst, greift unter den Ladentisch und zieht den neuesten Band heraus. Nun ja, spannende Geschichten findet man überall. Aber bist du nicht noch etwas jung dafür? Ich schüttelte den Kopf, er schenkte mir das Heft. Daheim riss es mir mein großer Bruder förmlich aus der Hand, der Perry Rhodan verschlang wie ich frische Butterbrezeln. Und ich war fünf Minuten lang ein Held.
 
Also. Gestern.
Berti ist kein Mensch, der unflätige Wörter benutzt. Na ja, er liest eben viel und hat eine große Auswahl an Formulierungen, mit denen er seinem Ärger elegant Luft machen kann. Aber gestern hab ich ihn wirklich kaum wiedererkannt. Er hatte eine dicke Beule am Kopf und rote Flecken im Gesicht. Und saß auf dem Boden, um sich herum ein wüstes Durcheinander aus geschätzten drei Dutzend in rosalila Schutzumschläge gehüllte dickleibige Bücher.
 
„Dieser vermaledeite Mist!“, begrüßte er mich.
 
Ich quetschte mich zwischen einem kippeligen Büchertisch und einem deckenhohen Regal hindurch und half ihm aufstehen. Berti wohnt direkt über der Buchhandlung, und als Kind habe ich mir immer vorgestellt, dass die vollgestopften Bücherregale durch die Decke direkt in sein Wohnzimmer gingen, und dann weiter bis über die Decke in die Wohnung obendrüber, in der lange Jahre Fräulein Else wohnte, die auch eine Brille und viele Bücher hatte.
 
„Ich krieg die Krätze von dem Zeug!“
 
Spätestens jetzt wusste ich, dass ich mir langsam Sorgen machen musste um meinen kultivierten Freund, der niemals mehr als ein gepflegtes Bier am Abend trinkt. Oder alternativ einen guten Whisky oder Wein. Mit Betonung auf ODER. Ich habe zwar auch den guten Vorsatz, bin aber zugegebenermaßen nicht so konsequent. Ein Grund, warum ich Berti als Freund so schätze. Er hilft mir, solide zu bleiben.
 
Aber jetzt ist er ziemlich derangiert und ich rieche, dass seine Vorsätze heute den Fight verloren haben. Und das ist wirklich das allererste Mal, seit ich ihn kenne. „Wein?“, frage ich.
 
„Whisky!", sagt er. "Lagavulin Distillers Edition. 1991er Abfüllung.“
 
Die Lage ist noch ernster, als ich dachte. Ich hebe eins der Bücher auf. Geschwungene hellrosa Schrift auf dunkellila Grund. Zwei Schaukelstühle vor glutrotlilafarbenem Sonnenuntergang. Leer. Nein, nicht ganz. Aus dem rechten hängt eine gepflegte weiße Hand heraus. Annabelle Chanson. Die wilden Leidenschaften der Emilie A.
„Nun ja, wenn ich das lesen würde, bräuchte ich wohl auch mehr als ein Schlückchen zum Nachspülen", versuche ich, Berti aufzumuntern.
 
„LESEN?“, brüllt mein sonst so freundlicher Freund. „DAS? ICH? Wofür hältst du mich?“
 
Er hält sich an dem kippeligen Tisch fest. Mein Blick fällt auf einen weiteren Bücherstapel. Paperback. Ein blitzendes Messer, lauter Blut auf unschuldigem Umschlagweiß. Ich kriege einen Schreck, aber dann sehe ich: Die Spritzer sind auf jedem Buch, überall an der gleichen Stelle. Von Berti kann das also nicht sein.
A.C. Dacon. Der Tod im Flur.
Der siebte Fall für Kommissarin Kitty.
 
„Erfolgreiche Dame, was?“, sage ich, merke aber gleich, dass der arme Berti heute für Humor nicht zu haben ist.
 
„Der Tod im Keller. Der Tod auf dem Dachboden. Der Tod in der Küche!“, schnaubt er. Was kommt wohl als nächstes? Der Tod im Klo?“
 
Ich habe Bedenken, dass der Tisch das noch lange aushält und führe Berti zum Tresen. Darauf stapelt sich ein weiterer Bücherhaufen. Daneben steht ein Ohrensessel. Zerschlissen, aber saugemütlich. Hab ich schon als Kind gern drin gesessen. Berti lässt sich reinplumpsen und betrachtet mich müde aus roten Augen.
 
„Nach meinem Selbstverständnis ist es die vornehmste Aufgabe eines Buchhändlers, seine Kunden professionell zu beraten. Deshalb habe ich von jeher größten Wert darauf gelegt, die Bücher zu lesen, die ich verkaufe.“
 
Die Sprache stimmt wieder. Die Aussprache nicht. Ich deute in Richtung des rosarotlila Haufens. „Mensch, Berti. Da hat doch wirklich jeder Verständnis dafür, dass du bei den vielen Büchern heutzutage nicht mehr die Zeit hast, alles vorher zu lesen.“
 
„Zeit hab ich den ganzen Tag.“
 
„Hm“, sage ich. „Vielleicht reicht es ja auch, den Tod im Keller zu lesen, um zu wissen, was Kitty ein halbes Jahr später in der Küche ermittelt?“
 
„Geschenkt“, sagt er und fährt sich über die Augen.
 
„Warum hast du mit dem Lagavulin nicht gewartet, bis ich komme?“
 
„Es war eine Kundin da.“
 
Das soll vorkommen, denke ich bei mir, wenn man einen Buchladen hat. „Ja, und? Hat sie etwa kein Buch gekauft?“

„Doch! Sogar zwei!“ Er wischt sich wieder über die Augen. „Die wilden Leidenschaften, einmal als Geschenk verpackt. Und weißt du, was sie gesagt hat, beim Gehen? Also, wirklich: Diese Annabelle-Chanson-Romane werden immer einfältiger! Den vorletzten Band fand ich so lala, aber beim letzten, das war wirklich unterste Schublade! Für wie doof hält die uns Leser eigentlich? Aber man will ja nicht so sein. Eine Chance gebe ich ihr noch. Und meine Freundin, die Lisa, die hat morgen Geburtstag und ist ein absoluter Fan. Die wird sich bestimmt freuen.“
 
Mir drängt sich der Verdacht auf, dass der Bücherstapel womöglich nicht von selbst umgefallen ist. „Hast du noch einen Whisky übrig?“
 

Samstag, 23. März 2013

Was für ein raffinierter Hund!

Neues vom Verleger

Freitags, irgendwann ...

Also, was Ad angeht, kriege ich langsam ein flaumiges Gefühl in der Magengegend. Der hat einfach ein Interview mit mir erfunden und es dem NNB untergejubelt. Mit Bild! Erzählt der mir so nebenbei beim Bier! Ich finde, das geht eindeutig zu weit! Und das wollte ich ihm gestern gerade sagen, als Berti hereinkam. Ich habe gleich gemerkt, mit den beiden, das wird nichts. Wer leider absolut gar nichts gemerkt hat, war Ad.
Er haut Berti auf die Schulter und greint: „Lass mich raten: Du bist der Berti mit dem Buchladen?“
Und Berti? Streckt Ad die Rechte hin: „Guten Abend, der Herr. Buchmann, mein Name.“
Zum Glück ist Ad schmerzfrei. Der grinst noch mehr, nimmt die Hand und schüttelt sie, dass Bertis Brille wackelt. „Freut mich, Herr Buchmann. Eduard Weber, mein Name. Sie dürfen aber gern Ad und Du sagen.“
Berti nickt, sagt überaus freundlich: „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Weber“, und schaut dann mich an wie der Feldwebel den Soldaten, der vom Desertieren heimkommt. Mir ist das alles sowas von peinlich.
 
Da hilft nicht mal, dass Willi kommt und Berti das Bier hinstellt: „Guten Abend, Herr Buchmann. Drei Minuten. Extra für Sie.“
„Und ich?“, frage ich.
„Dauert noch vier Minuten“, sagt Willi und verschwindet wieder hinter seiner Theke.
„Für mich bitte auch noch eins!“, ruft Ad ihm hinterher. Ich habe längst den Verdacht, dass der in Wahrheit gar kein Bier trinkt. Das macht er nur, um mir zu imponieren. Damit ich ihn nicht rauswerfe, den selbsternannten Pressechef und Marketingleiter.
Ich versuche, mit Berti ein Gespräch anzufangen, aber ich merke, dass er heute Abend nicht recht reden will. Und dann ärgere ich mich doch etwas über ihn: Für wen hab ich diese Chose denn in die Welt gebracht? Ich opfere ganze Tage, mach mir einen Kopf und sonst was, um ihm zu helfen, und er? Spielt die beleidigte Leberwurst!
 
„Also, ich hätte da eine Idee“, sagt Ad zu ihm. Und fängt an, ihn zuzuquasseln mit Vorschlägen, wie man den Buchladen on the Top bringen könnte, und ob Berti schon daran gedacht habe, bei Facebook einen Account zu eröffnen? Eine moderne Buchhandlung müsse heutzutage schließlich online sein!
Berti guckt ihn an. Lächelt. Und sagt überaus freundlich: „Ich habe keine moderne Buchhandlung.“
Und Ad? Der sagt tatsächlich: NICHTS.
Dafür bewundere ich Berti: Der kann so freundlich sein, dass die Blumen aufblühen, und gleichzeitig seinem Gegenüber mitteilen, dass es an der Zeit ist, schnellstens den Zug zu wechseln.
Ich habe mich schon oft gefragt, warum das so ist. Vielleicht hat es damit zu tun, dass es eigentlich niemanden außer mir gibt, der sich traut, Berti Berti zu nennen. Sogar Willi sagt Herr Buchmann. An der Kleidung kann es nicht liegen. Wer genauer hinschaut, sieht schon, dass Bertis Anzug nicht mehr so ganz der Mode folgt. Und besonders imposant sieht Berti auch nicht aus. Eher unscheinbar, wenn ich ehrlich bin. Und trotzdem kriegt er es irgendwie hin, dass jeder ihn respektiert, sobald er nur den Raum betritt. Noch bevor er irgendwas sagt. Na ja, Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber selbst bei Leuten wie Ad reicht zumeist ein Satz. Es muss etwas mit der Art zu tun haben, wie Berti steht und geht, und vor allem: wie er einen anschaut. Ich hatte damals auch Mordsrespekt vor ihm, als ich die Bücher für meine Klassenkameraden bestellt habe. Ohne Perry Rhodan wären wir wohl niemals Freunde geworden.
 
Aber das tolle Gefühl, von meinem Bruder ernstgenommen zu werden, der sonst nichts Besseres zu tun hatte, als mich bei jeder Gelegenheit zu piesacken, das wollte ich öfter haben. Und nur deshalb bin ich regelmäßig in die Buchhandlung gegangen, zu diesem ernstschauenden Menschen mit der runden Brille auf der Nase, der so kluge Sachen sagte und gleichzeitig unter dem Ladentisch die neuesten Perry-Rhodans versteckte. Und irgendwann hat er dann ganz ernstfreundlich zu mir gesagt: „Es ist schon erstaunlich, dass eine Lektüre zwei Menschen zusammenbringt, die keiner von beiden je gelesen hat, nicht wahr?“
 
Das hat mir noch mehr imponiert als die Bewunderung meines Bruders. Und dann hat Berti mir ein Buch geschenkt. Irgendwas mit Fragezeichen. Und weil ich mich nicht blamieren wollte, hab ich`s halt gelesen. Und fand es sogar ganz gut. Aber er hat mich gar nicht gefragt, ob es mir gefallen hat. Er hat gefragt, was ich, wenn ich das Buch geschrieben hätte, anders gemacht hätte. Erst viel später ist mir aufgegangen, was für ein raffinierter Hund Berti ist! Doch da hatte er mich längst geködert mit seinen Lektürevorschlägen, und irgendwann hat er gemeint: „Ich finde, Herr Buchmann hört sich an wie in der Schule. Aber ich möchte nicht dein Lehrer sein. Und damit auch gar nicht erst der Verdacht aufkommt, sagst du am besten ab sofort Berti zu mir.“
 
Ganz ehrlich: Ich war stolz wie Bolle! Trotzdem hat es Wochen gedauert, bis ich das wirklich ohne Stolpern über die Lippen bekommen habe: Berti zu sagen zu einem so gescheiten Mann, der eine runde Brille und einen ganzen Buchladen hatte. Und der …
 
(c) Thoni Verlag, Fortsetzung folgt ...